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Gerhard S.

Gerhard S. wird nur 43 Jahre alt. Er wird am 1. Juni 1991 am Leipziger Hauptbahnhof von zwei Neonazis aus der Straßenbahnlinie 17 gestoßen.
Die beiden Neonazis pöbeln und rempeln andere Fahrgäste an. Gerhard S. positioniert sich gegenüber den beiden mit den Worten: „Unglaublich, diese Nazis.“ Daraufhin greifen die Neonazis Gerhard S. mit Tritten und Schlägen an. Dann werfen sie ihn bei voller Fahrt aus der Straßenbahn. Dabei wird Gerhard S. so schwer verletzt, dass er wenige Tage später stirbt.
Andere Fahrgäste beschreiben einen der Täter als stark tätowierten „Skinhead“ mit Springerstiefeln und einem Shirt mit Reichsadler-Aufdruck. Nach Angaben der „Leipziger Volkszeitung“ wurde der Täter auch identifiziert und zur Fahndung ausgeschrieben. Der Sächsischen Landesregierung ist der Todesfall jedoch nicht einmal bekannt, wie eine Anfrage Anfang 2014 ergab.

Seit der Ausstellung aus dem Jahr 2014 – und nicht zuletzt aufgrund dieser Ausstellung – und den zugrundeliegenden Recherchen haben sich im Nachgang einige Änderungen ergeben, die uns dazu bewegten, die Ausstellung zu überarbeiten. So wurde 2014 Thomas K. nachträglich offiziell als weiteres Todesopfer rechter Gewalt anerkannt. Weitere parlamentarische Anfragen zum Tötungsdelikt an Gerhard Helmut B. bestärkten uns darin, die Tat nicht mehr als Verdachtsfall, sondern als eigenes, rechtes Tötungsdelikt zu führen. Durch kontinuierliche Gedenk- und Erinnerungsarbeit konnte Kontakt mit Hinterbliebenen von Karl-Heinz Teichmann hergestellt werden, welcher ebenfalls zu weiteren Informationen führte, die wir in die aktualisierte Ausstellung eingearbeitet haben. Wir überarbeiteten die Ausstellung auch in der Hinsicht, dass wir uns entschieden, menschenverachtende Aussagen, die während der Taten gefallen sind, nicht weiter zu reproduzieren. Dies geschah aufgrund von Projekten mit Jugendlichen und dem Feedback von Besucher:innen der Ausstellung. Zudem hatten wir den Eindruck, nach zehn Jahren nicht mehr anhand von Aussagen der Täter „beweisen“ zu müssen, dass rechte Einstellungsmerkmale den Taten zugrunde liegen.

Diese Ausstellung muss weiterhin unvollendet bleiben. Während der Recherche sind wir auf mehrere Verdachtsfälle gestoßen, die auf ein deutlich größeres Dunkelfeld hinweisen. Es zu erhellen, kostet Zeit und Geld und viel Geduld – die wir als ehrenamtliches Projekt nicht leisten können. Denn die Suche nach Zeitzeug:innen und Angehörigen sowie die Sichtung von Gerichtsakten stellt eine Herausforderung dar. Bis heute verwehrte uns die Staatsanwaltschaft Leipzig den Zugang zu den Gerichtsurteilen der Todesfälle, bei denen wir ein rechtes oder rassistisches Tatmotiv annehmen. Wir halten das für einen Skandal, zumal die Urteile im „Namen des Volkes“ gesprochen wurden und es sich um gesellschaftlich hoch relevante Fälle handeln könnte.

Wie groß das mögliche Dunkelfeld rechts-motivierter Morde in Deutschland ist, lassen die Zahlen der Altfallprüfungen nach der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) erahnen. Die Bundesregierung prüfte nach 2011 3300 bislang ungeklärte Tötungsdelikte und Tötungsversuche aus den Jahren 1990 bis 2011. Dabei wurden 746 Fälle ausgemacht, bei denen Hinweise auf eine „rechte Tatmotivation“ vorliegen. Hinzu kommen mehr als 100 von Journalist:innen recherchierte Fälle, die statistisch nicht erfasst sind. Diese Prüfung lag bei den Bundesländern, was zu einer großen Diskrepanz zwischen den einzelnen Ländern führte. Während zum Beispiel das Land Brandenburg bereits Ende 2012 eine wissenschaftliche Einrichtung mit der Aufarbeitung von strittigen Altfällen rechts-motivierter und rassistischer Gewalt betraute, an der auch Personen aus zivilgesellschaftlichen Einrichtungen beteiligt waren, prüfte in Sachsen das Innenministerium. Dies schlug sich auch in den Zahlen der nachträglichen Anerkennung von Todesopfern rechter Gewalt nieder. Während in Brandenburg neun Todesopfer rechter Gewalt nachträglich offiziell anerkannt wurden, waren es in Sachsen drei – einer davon Thomas K.

Ähnliche Aufarbeitungsprozesse wie in Brandenburg sind in Sachsen aufgrund der konservativen Regierung derzeit nicht vorstellbar. So bleibt es dabei: Die Offenlegung der Dimension rechter und rassistischer Gewalt muss weiterhin durch engagierte Initiativen, Journalist:innen und Politiker:innen erfolgen. Diese müssen sich auch zukünftig mit offiziellen Stellen auseinandersetzen, die die Hintergründe der Taten oft relativieren und leugnen. Bei der intensiven Begleitung der Aufklärung des Mordes an Kamal Kilade konnten wir dies miterleben. Ohne unsere offensive Öffentlichkeitsarbeit, eine in diesen Fällen erfahrene Nebenklage und die intensive Kooperation mit den Angehörigen wäre das klare Urteil nicht möglich gewesen. Nach dem Urteil folgte die Anerkennung von Kamal Kilade als „Todesopfer rechter Gewalt“.

Umfassende Informationen zum Thema:

1.
Rechercheprojekt zu Todesopfern rechter Gewalt der Journalist:innen Heike Kleffner und Frank Jansen bei „DIE ZEIT“ und „Der Tagesspiegel“, Hintergrundartikel und umfassende, interaktive Statistik
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-09/todesopfer-rechte-gewalt-karte-portraet

https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-09/verdachtsfaelle-toetungsdelikt-rechter-hintergrund

2. Statistik des Opferfonds CURA
opferfonds-cura.de

3. Ausstellungsprojekt „Opfer rechter Gewalt seit 1990“
opfer-rechter-gewalt.de

4. Opferberatung des RAA Sachsen e. V. (Hg.), Tödliche Realitäten. Der rassistische Mord an Marwa El-Sherbini
raa-sachsen.de

5. Thomas Billstein (Hg.), Kein Vergessen – Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945, Unrast Verlag
unrast-verlag.de/produkt/kein-vergessen/

Engagement:
1. Initiativkreis Antirassismus
Der Initiativkreis hat sich 2010 aus Anlass des Mordes an Kamal gegründet. Bereits vorher entstand die Idee, ausführlicher zum Thema rechts-motivierter Morde in Leipzig zu arbeiten. Der Initiativkreis hat den Prozess um die Aufarbeitung des rassistischen Mordes an Kamal aktiv begleitet und im Anschluss die Aufarbeitung des Mordes an dem wohnungslosen Andre K. im Mai 2011 in Oschatz.
Der Initiativkreis hat sich zur Aufgabe gemacht, aktiv an die Opfer rechter Gewalt zu erinnern, z. B. in Form von Gedenkdemonstrationen. Die Ausstellung soll einen weiteren Beitrag dazu leisten.
initiativkreis.blogsport.de

2. „Rassismus tötet!“-Leipzig
Mit der Gründung der bundesweiten Kampagne „Rassismus tötet!“ Anfang 2012 sollte an die rassistischen Pogrome und Anschläge der 1990er Jahre sowie ihrer Opfer gedacht werden. Ziel der Kampagne war es, die rassistische Stimmungsmache Anfang der 90er in den Fokus der Kritik zu rücken und institutionellen wie gesellschaftlichen Rassismus von gestern und heute zum Thema zu machen und zu bekämpfen.
Als lokaler Ableger der Kampagne organisiert die Gruppe Vorträge, Lesungen, Diskussionsrunden, Filmvorführungen und Demonstrationen zu den Themenschwerpunkten Rassismus, Asyl und rechts-motivierte Morde in Leipzig und Umgebung.
Die politische Praxis beruht auf der Auseinandersetzung mit den Ursachen, der Geschichte und der Wirkungsweise von Rassismus.
Die Gruppe erachtet es als eine Notwendigkeit, die bundesdeutsche wie europäische Asylpolitik im Ganzen zu kritisieren und zu verändern. Weiterhin sollen die Betroffenen von Rassismus bei ihren Kämpfen unterstützt werden.
rassismus-toetet-leipzig.org

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